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Vom Nutzen und Schaden der Deregulierung

von Philipp Mörth | 11.09.2018

Gerade die Digitalisierung führt eindrucksvoll vor Augen, wie fragmentiert Herrschaftsbeziehungen geworden sind. Macht und das Bedürfnis nach ihrer Regulierung begegnen uns jenseits der Dichotomie von Staat und Bürger in zahllosen Schattierungen. Die Digitalisierung zeigt uns auch, dass sich viele gesellschaftliche Probleme kaum probat mit neuen Gesetzen lösen lassen, dass aber Deregulierung auf der anderen Seite auch kein Wert an sich ist. Zieht sich der Staat aus einem Bereich zurück oder lässt er sich gar nicht erst auf ihn ein, werden andere Akteure die Lücke füllen.

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Kontinuierliche Komplexitätssteigerung des Rechts

Das Recht wird immer komplizierter – diese vermeintliche Juristen-Gewissheit passt hervorragend in dieselbe Schublade wie die vermeintliche Lehrer-Gewissheit, die Leistungen der Schüler würden von Jahr zu Jahr dürftiger.

Naturgemäß, Schüler wie Recht verändern sich. Doch sowohl die Juristin, die über die kontinuierliche Komplexitätssteigerung des Rechts klagt, als auch der Lehrer, der die zunehmende Inkompetenz seiner Schüler tadelt, laufen Gefahr, ihre Augen vor systemischen Veränderungen zu verschließen: „The Times They Are a-Changin’“ sang Bob Dylan im Jahr 1964. Und oft haben sich Recht wie Schüler besser an die aktuellen Verhältnisse angepasst, als sich das Juristin und Lehrer vorstellen mögen.

Reglementierung versus Überreglementierung

Die Warnung vor einer Überreglementierung im Verwaltungsrecht ist fast ebenso alt wie das kodifizierte Verwaltungsrecht selbst. Und sie ist durchaus berechtigt: Hat die Administration erst einmal über die Inhalte gesiegt, frustriert eine Verwaltung damit ihre Aufgabe. Schließlich existiert Verwaltung nicht als Zweck an sich selbst; schließlich ist Verwalten kein „l’art pour l’art“. Verwaltet wird vielmehr, um staatliche Aufgaben zu besorgen – im Idealfall solche, die den Interessen des Gemeinwohls dienen.

Ebenso alt wie die Sorge vor der Überreglementierung ist allerdings auch die Forderung nach einer gesetzlichen Reglementierung der Verwaltung. Auch diese Forderung hat ihre Berechtigung. Der großartige Rechtswissenschaftler Otto Mayer hat es bereits im Jahr 1895 auf den Punkt gebracht: Es „ist zweifellos das erste Gebot des Rechtsstaates“ von der „Gesetzgebungsmaschine“ „möglichst viel Rechtssätze für die Verwaltung“ erzeugen zu lassen, denn: „Der Staat, der für seine Verwaltung kein Gesetz hat und keinen Verwaltungsakt, ist kein Rechtsstaat.“ Otto Mayer wusste also, wofür Reglementierung gut ist: Sie kann das Zünglein an der Waage sein zwischen Polizeistaat und Rechtsstaat.

Macht und das Bedürfnis nach ihrer Regulierung

Nun mag Mayers Warnung vor dem Polizeistaat heute zwar weniger aktuell klingen als dazumal. Doch während staatliches Handeln dem Recht seither zumindest formal weitgehend unterworfen worden ist, sind andere Akteure mächtig geworden: Manch eine Bedrohung, die einst von Metternichs Überwachungsstaat ausging, ließe sich heute einem multinationalen Internetkonzern nachsagen.

Allein, auch das ist nur ein kleiner Mosaikstein in einem großen Bild: Gerade die Digitalisierung führt eindrucksvoll vor Augen, wie fragmentiert Herrschaftsbeziehungen geworden sind. Macht und das Bedürfnis nach ihrer Regulierung begegnen uns jenseits der Dichotomie von Staat und Bürger in zahllosen Schattierungen.

Auf all das und auf unzähliges mehr sollte eine gute Verwaltung vorbereitet sein: Immerhin erwarten wir von ihr, dass sie reguliert, gestaltet, informiert, Leistungen erbringt, straft und normalisiert – während sie nebenbei die übrigen Geschäfte des Staates zu führen hat. Gut zu verwalten ist also durchaus eine Kunst. Eine Kunst, die aus demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen gemäß Artikel 18 Absatz 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes „auf Grund der Gesetze“ auszuüben ist: Wo die Verwaltung handeln möchte, muss ihr das ein Gesetz erst erlauben. Kein Wunder also, dass die Normenvielfalt im Verwaltungsrecht überwältigend wirken kann.

Handhabe der Vielfalt

Anzeichen einer Kapitulation vor dieser Vielfalt begegnen einem auf Schritt und Tritt: Wer an den wechselnden Empörungskurven für mehr oder weniger Gesetze mitwirkt, phantasiert sich vermutlich in eine unkompliziertere Welt zurück, die es aller Voraussicht nach so niemals gegeben hat. Wer seine Habilitationsschrift über das „Fruchtsaftverwaltungsrecht“ (© Christoph Bezemek/Alexander Somek) verfasst, riskiert, vor lauter Nähe den Überblick zu verlieren.

Besser beraten ist, wer auf der einen Seite erkennt, dass sich viele gesellschaftliche Probleme kaum probat mit neuen Gesetzen lösen lassen, dass aber Deregulierung auf der anderen Seite auch kein Wert an sich ist: Zieht sich der Staat aus einem Bereich zurück oder lässt er sich gar nicht erst auf ihn ein, werden andere Akteure die Lücke füllen.

Die Qualität einer Gesetzgebung lässt sich also nicht anhand der Quantität ihrer Produktion beurteilen. Dafür sind die Tugenden guter Gesetzgebung seit Einführung der Demokratie bemerkenswert konstant geblieben. Und wenn sie heute beim Blick auf die Tagesschlagzeilen anachronistisch klingen mögen, lohnt es sich umso mehr, an sie zu erinnern: Gesetze wollen wohlüberlegt sein, sie sollten sich möglichst am Gemeinwohl orientieren und darauf abzielen, tatsächliche Probleme zu lösen.

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