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Wie das Kartellrecht „digitalisierungsfit“ werden soll

von Johannes Hartlieb | 12.08.2020

Quelle: freepik.com

„Making sure that competition policy and rules are fit for the modern economy“

„Strengthening competition enforcement in all sectors“

Diese Schlagworte aus dem “Mission Letter” der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager lassen bereits die Richtung der aktuellen EU-Wettbewerbspolitik erkennen: Die Europäische Kommission möchte das Wettbewerbsrecht fit für die Themen des 21. Jahrhunderts – insbesondere für den „MegatrendDigitalisierung – machen.

Der zunehmende Fokus des EU-Kartellrechts auf digitale Märkten kommt nicht weiter überraschend – wir haben bereits an unterschiedlichen Stellen darüber berichtet (siehe hier und hier und zuletzt hier). Genauso wenig überraschend ist die Ansicht der Kommission, dabei über ein insuffizientes Instrumentarium zu verfügen – dies hat die Behörde in ihrem Bericht zur Wettbewerbspolitik im digitalen Zeitalter bereits angedeutet. Durchaus überraschend sind dagegen die Geschwindigkeit und der Umfang des nunmehrigen Vorgehens der Kommission. Im Juni 2020 hat die Kommission zwei öffentliche Konsultationen zur Regulierung von digitalen Dienstleistungen und zur Einführung neuer Instrumente im Kartellrecht gestartet. Bereits im 4. Quartal 2020 möchte sie erste Vorschläge erstatten. Wir werfen einen Blick auf die angedachten Maßnahmen.

Hintergründe

Die Kommission verfügt über ein breites Arsenal an kartellrechtlichen Instrumenten zur Hintanhaltung und Abstellung von Wettbewerbsverstößen: Sie kann Geldbußen und Zwangsgelder verhängen, die Abstellung bestimmter Praktiken verlangen und diverse verhaltensorientierte oder strukturelle Abhilfemaßnahmen auftragen. Die europäischen Gerichte haben den kommissionellen Spielraum bei der Anwendung dieser Instrumente immer weiter ausgedehnt: Die gerichtliche Prüfung des Vorgehens der Kommission bei – im Kartellrecht ubiquitären – komplexen wirtschaftlichen Sachverhalten ist auf eine bloße Evidenzkontrolle reduziert. Durch sogenannte Verpflichtungsbeschlüsse ist es der Kommission sogar erlaubt, den Unternehmen ohne festgestellten Kartellverstoß umfassende Abhilfemaßnahmen aufzuerlegen, die auch den Verkauf wesentlicher Unternehmensteile beinhalten können. Nicht zuletzt werden diese umfassenden Befugnisse vom legistisch gestärkten „private enforcement“ flankiert.

Trotz dieser Regelungsfülle bestehen aus Sicht der Kommission die eingangs beschriebenen Vollzugsdefizite – Abhilfe sollen zwei potentiell weitreichende Vorhaben schaffen, die sich in der Konsultationsphase befinden und im Folgenden beschrieben werden.

Vorhaben I: Regulierung von digitalen Plattformen

Nicht erst die Corona-Krise hat die hohe Bedeutung digitaler (Verkaufs-)Plattformen für den modernen Handel gezeigt. Dabei identifiziert die Kommission in ihrem „Impact Assessment“ zur Regulierung von digitalen Plattformen zahlreiche Umstände, die eine positive Entwicklung des Wettbewerbs im Bereich digitaler Plattformen hemmen. Dazu zählen die hohe Bedeutung von Netzwerkeffekten, das Bestehen von wenigen „online platform ecosystems“ mit hohen Marktanteilen oder die Abhängigkeit von Daten, die einen Hebel für den Eintritt in benachbarte Märkte darstellen („leveraging“). Daneben verweist die Kommission auf das Phänomen der „tipping markets“, wonach Märkte mit starken Netzwerkeffekten zur Hervorbringung von Monopolisten neigen („the winner takes it all“).

Die Kommission zeigt drei alternative Vorgehensweisen auf, um der beschriebenen Probleme Herr zu werden:

  1. Überarbeitung der bestehenden Verordnung (EU) 2019/1150 vom 20. Juni 2019 zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten
  2. Schaffung von Sekundärrecht zur Verbesserung der Sammlung von Daten digitaler Plattformen durch die nationalen Regulierungsbehörden
  3. Schaffung neuer sekundärrechtlicher Regelungen zur Regulierung digitaler Plattformen

Nur der dritte Vorschlag der Kommission wäre mit weitreichenden präventiven Eingriffsmöglichkeiten der nationalen Behörden verbunden. Diese sollen vom bloßen Verbot bestimmter Praktiken („blacklisted practices“, zB „self preferencing“) bis hin zur Durchführung struktureller Maßnahmen (Kontrahierungszwang, Unternehmensentflechtungen) reichen.

Vorhaben II: Neue Instrumente im Kartellrecht

Parallel zur Konsultation der Öffentlichkeit über präventive Regulierungsmaßnahmen führt die Kommission eine Befragung zur Einführung neuer repressiver wettbewerbsrechtlicher Maßnahmen im Hinblick auf digitale Plattformen durch. Dieser Ansatz entspricht der engen Verzahnung wettbewerbs- und regulierungsrechtlicher Maßnahmen in der europäischen Wettbewerbspolitik, insbesondere im Bereich der Missbrauchsaufsicht.

Die von der Kommission in ihrem „Impact Assessment New Competition Tool“ identifizierten wettbewerbspolitischen Probleme im Bereich digitaler Plattformen entsprechen weitgehend den oben dargestellten. Zur Überwindung dieser Probleme schweben der Kommission zwei wettbewerbsrechtliche Ansätze vor:

  1. Dominance-based competition tool“: Eingegriffen werden kann bei Vorliegen einer beherrschenden Stellung auf einem Markt.
  2. Market structure-based competition tool“: Ein behördlicher Eingriff ist an das Bestehen struktureller Risiken für den Wettbewerb gebunden. Das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung ist nicht erforderlich.

In beiden Fällen unterscheidet die Kommission zwischen einem horizontalen Ansatz, der alle Sektoren erfasst, und einem limitierten Ansatz, der nur besonders gefährdete Wirtschaftsbereiche betreffen soll. Bemerkenswert ist, dass die Verhängung verhaltensorientierter oder struktureller Maßnahmen in beiden Fällen nicht an die Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes gebunden sein soll. Dies rückt die angedachten Instrumente in die Nähe von Beschlüssen nach Art 9 VO 1/2003 („Verpflichtungszusagen“).

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der deutsche Gesetzgeber mit der 10. GWB-Novelle. Das Bundeskartellamt kann die „überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb“ eines Unternehmens, das auf mehrseitigen Märkten tätig ist, feststellen. Beurteilungskriterien sind neben den Marktanteilen eines Unternehmens auch dessen Zugang zu Daten oder dessen Finanzkraft. Unabhängig von der Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes können einem solchen Unternehmen bestimmte Praktiken wie die Diskriminierung von Angeboten von Wettbewerbern beim Vermitteln des Zugangs zu Beschaffungs- und Absatzmärkten („gatekeeping“) untersagt werden.

Weiteres Vorgehen

Die Konsultationen dauern noch bis 08.09.2020 an. Im vierten Quartal möchte die Kommission erste Regelungsvorschläge präsentieren. Nach der teils kritischen Rezeption bleibt abzuwarten, wie weitreichend die vorgestellten Maßnahmen sein werden. Wir werden an dieser Stelle darüber berichten.

Für die Beantwortung weiterer Fragen zu diesem Thema stehen Ihnen unsere Experten des Wettbewerbsrechtsteams gerne telefonisch zur Verfügung.

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Dieser Beitrag stellt lediglich eine allgemeine Information dar und ersetzt keine Rechtsberatung. Die Haslinger / Nagele Rechtsanwälte GmbH übernimmt keinerlei Haftung für Inhalt und Richtigkeit dieses Beitrages.

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